Ein Korsett namens Versammlungsgesetz
Versammlungen sind ein Stück ungebändigte Demokratie. Wenn viele unterschiedliche Menschen zusammen ihr Anliegen auf die Straße tragen, dann läuft das naturgemäß anders, als bei einer kommerziellen Veranstaltung, deren Ablauf genau durchgeplant ist. Die Veranstalter:innen sind in der Regel keine „Profis“, die juristisch geschult sind und das Versammlungsrecht bis ins Detail kennen. Im Gegenteil, für viele Veranstalter:innen und Leiter:innen von Versammlungen ist es nicht alltäglich, mit der Polizei konfrontiert zu sein. Schon eine Versammlung anzumelden ist für viele Bürger:innen eine Hürde, aus Angst, etwas falsch zu machen.
Da ist es kontraproduktiv, dass der Gesetzesentwurf den Bürger:innen durchweg mehr Verantwortlichkeit für den Ablauf zuschiebt, während die Polizei als Versammlungsbehörde mehr Befugnisse erhalten soll. Auf diese Weise wird das Versammlungsgesetz zu einem Korsett, das der Versammlung die Luft zum Atmen nimmt.
Wenn man den Entwurf liest, hat man den Eindruck, dass die Verfasser:innen sämtliche Urteile der Gerichte aus den vergangenen Jahren durchgegangen sind und sie darauf analysiert haben, welche Möglichkeiten es gibt, Versammlungen zu beschränken. Zwar gibt es hier und da auch gute Ansätze, beispielsweise wenn öffentlich zugängliche Flächen künftig ausdrücklich für Versammlungen genutzt werden dürfen, auch wenn sie Privaten gehören. Aber in der Gesamtschau überwiegt der Eindruck, dass Versammlungen mehr als Gefahr denn als Grundrecht gesehen werden.
Stellvertreterkritik am Bundesverfassungsgericht
Besonders deutlich wird dies in der Begründung, wo mit einem rhetorischen Kniff versucht wird, die Bedeutung von Versammlungen für die Demokratie infrage zu stellen. Natürlich trauen sich die Verfasser:innen nicht, das Bundesverfassungsgericht für seine freiheitliche Rechtsprechung zu Versammlungen offen zu kritisieren. Stattdessen zitieren sie seitenlang Stimmen aus der Rechtswissenschaft. So heißt es in Bezug auf den wegweisenden Brokdorf-Beschluss:
Das Gericht habe ferner ausgeblendet, dass die Ausnutzung des Sensationsbedürfnisses der Medien durch geschickte Versammlungs- und Demonstrationsveranstalter teilweise gerade zur Überrepräsentation von Versammlungsereignissen in der Berichterstattung führen könne, die nicht durch die politische Bedeutung der jeweiligen Versammlung, sondern durch die medienwirksame Aktion bis hin zu gezielten (und gefilmten) Rechtsverletzungen geprägt seien. Bei überproportionaler Berichterstattung über sensationelle Versammlungen von Rand- und Splittergruppen wirke die Versammlungsfreiheit nicht staatsstabilisierend, sondern für die betroffene Minderheit eher auf Dauer frustrierend (Hervorhebung durch mich).
Gesetzesentwurf, LT-Drs. 17/12423, S. 42
Ganz in diesem Sinne ist auch der Gesetzesentwurf zu verstehen. Es geht nicht darum, ein moderndes und freiheitliches Versammlungsgesetz zu schaffen. Es geht darum, Versammlungen zu erschweren.
Die Regelungen im Überblick
Nachfolgend die wichtigsten Inhalte des Entwurfs, wobei ich allerdings nur auf die Regelungen eingehe, die mir besonders problematisch erscheinen. Da der Entwurf erst vor wenigen Tagen veröffentlicht wurde, handelt es sich um eine erste Einschätzung, aber nicht mehr.
Verbot von „Blockadetrainings“
Schon das bisherige Versammlungsgesetz kennt das Störungsverbot. Der Gesetzesentwurf verschärft dieses aber erheblich, wohl um den Blockaden von Naziaufmärschen zu begegnen:
[Es ist verboten]
- in der Absicht, nicht verbotene Versammlungen zu behindern oder zu vereiteln, Gewalttätigkeiten vorzunehmen oder anzudrohen oder Störungen zu verursachen,
- in der Absicht, nicht verbotene Versammlungen zu verhindern oder ihre Durchführung zu vereiteln oder wesentlich zu erschweren, Handlungen vorzunehmen, die auf die Förderung von in Nummer 1 beschriebenen Handlungen gegen bevorstehende Versammlungen gerichtet sind.
Gesetzesentwurf, LT-Drs. 17/12423, S. 10
Ein Verstoß gegen das Störungsverbot setzt objektiv die Störung einer Versammlung voraus und subjektiv, dass diese beabsichtigt, die Versammlung zu behindern oder zu vereiteln. Der Gesetzesentwurf hält auf nicht hinterm Berg, was die Regelung soll: Die Norm zielt vor allem auf sogenannte „Probeblockaden“ (bzw. „Blockadetrainings“).
Die Vorbereitung oder Einübung von Störungshandlungen ist auch dann verboten, wenn ein konkretes Versammlungsgeschehen nicht absehbar ist. Zusammenkommen müssen vielmehr lediglich eine subjektive Verhinderungsabsicht und objektiv Handlungen, die die Durchführung der Versammlung behindern können. Das ist bei einem „Blockadetraining“ der Fall, da es die Blockadefähigkeiten potenzieller Blockierer erhöhen und letztere zudem in ihrer Blockadeabsicht bestärken kann, was sich wiederum potenziell nachteilig für die blockierte Versammlung auszuwirken vermag.
Gesetzesentwurf, LT-Drs. 17/12423, S. 59
Damit wird es künftig verboten sein, sich gegen Nazis auf die Straße zu setzen – und zwar auch dann, wenn die Blockade einem kommunikativen Zweck dient. Wie unter anderem das Oberverwaltungsgericht NRW herausgearbeitet hat, ist nicht jede Blockade strafbar, sondern nur die sogenannte Verhinderhungsblockade. Friedliche Blockaden sind von der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG geschützt (OVG Münster, Urteil vom 18.09.2012 – 5 A 1701/11).
Da gerade das Verbot auch dann greifen soll, wenn kein konkretes Versammlungsgeschehen absehbar ist, werden auch rechtlich zulässige Versammlungen wie Blockadetrainings, mit denen Aufmerksamkeit z.B. auf einen anstehenden Naziaufmarsch gelenkt werden soll, durch das Gesetz unterbunden und sogar strafrechtlich sanktioniert.
Ausweitung der Videoüberwachung
Nachdem die Versammlungsbehörden in der Vergangenheit mehrfach gerichtlich attestiert bekommen hatten, dass die Videoüberwachung von Versammlungen ohne Anlass gegen Grundrechte verstößt, sollen nun „Übersichtsaufnahmen“ erlaubt werden. Nach § 16 Abs. 2 VersG-E sind diese zur „Lenkung und Leitung des Polizeieinsatzes“ zulässig, wenn dies „wegen der Größe oder Unübersichtlichkeit der Versammlung im Einzelfall erforderlich ist“. Es ist damit zu rechnen, dass die Behörden dies bereits bei einigen hundert Teilnehmer:innen annehmen werden. So argumentierte jedenfalls die Polizei Dortmund in einem entsprechenden Verfahren.
Die Grundlagen des Versammlungsrechts – verständlich erklärt. Wie melde ich eine Versammlung an? Wie wehre ich mich gegen Auflagen der Behörden? Diese und weitere Fragen beantwortet das Buch mit zahlreichen Beispielen für alle, die ihr Anliegen effektiv auf die Straße tragen wollen.
Warum sind Videoaufnahmen problematisch? Wer damit rechnen muss, dass seine Teilnahme an einer Versammlung behördlich registriert wird, könnte von der Wahrnehmung seines Grundrechts abgeschreckt werden. Das ist auch der Grund, warum die Polizei nicht einmal durch eine auf die Versammlung gerichtete Kamera den Eindruck erwecken darf, sie würde filmen. Denn bereits damit würde sie die Versammlungsfreiheit beschränken.
Die Übersichtsaufnahmen sollen dann auch aufgezeichnet werden dürfen, „soweit Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass von Versammlungen, von Teilen hiervon oder ihrem Umfeld erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgehen“.
Die „Übersichtsaufnahmen“ sollen zwar vordergründig nur dazu dienen, den Polizeieinsatz zu lenken. Durch die Möglichkeit, die Aufnahmen zu speichern und anderweitig zu nutzen, führt diese Regelung aber dazu, dass bald so gut wie jede Versammlung videografiert werden kann, wenn sie nur nicht ganz klein ist. Und selbst wenn die Gerichte dem einen Riegel vorschieben: Erst einmal könnten die Behörden die neue Rechtslage für sich nutzen, es müsste ja jemand klagen…
Anforderung von Ordner:innenlisten ohne klare Grenze
Listen von Ordner:innen sollen bereits dann abgegeben werden müssen, wenn von der Versammlung eine Gefahr ausgeht.
Wenn aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte zu besorgen ist, dass von einer öffentlichen Versammlung unter freiem Himmel eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht, hat die Veranstalterin oder der Veranstalter der Behörde auf deren Aufforderung hin Namen und Adressen der vorgesehenen Ordnerinnen und Ordner mitzuteilen.
Gesetzesentwurf, LT-Drs. 17/12423, S. 13
Dazu muss man wissen, dass letztlich von jeder Versammlung die eine oder andere Gefahr ausgeht. Die jetzige Regelung würde die Vorlage von Ordner:innen-Listen erlauben, selbst wenn die Gefahr in überhaupt keinem Zusammenhang mit den eingesetzten Ordnern stehen. Warum eine Liste vorgelegt werden sollte, wenn die Gefahr besteht, dass die Versammlung zu Störungen des Autoverkehrs führt, ist fraglich. Letztlich sind die Anforderungen so niedrig, dass die Polizei immer einen Grund finden wird, eine Ordner:innen-Liste zu verlangen.
Militanzverbot
Besonders problematisch ist das geplante „Militanzverbot„. Ersichtlich zielt es auf den „Schwarzen Block“ ab. Verboten soll nach § 18 Abs. 1 VersG-E künftig sein, an einer Versammlung auch nur teilzunehmen, wenn diese infolge des äußeren Erscheinungsbildes
- durch das Tragen von Uniformen, Uniformteilen oder uniformähnlichen Kleidungsstücken,
- durch ein paramilitärisches Auftreten oder
- in vergleichbarer Weise
Gewaltbereitschaft vermittelt und dadurch einschüchternd wirkt.
Schon die Begriffe „in vergleichbarer Weise“, „vermitteln“ und „einschüchternd wirken“ sind nur schwer zu bestimmen. Vor allem stellt sich die Frage, ob das Verbot für alle Teilnehmenden einer Versammlung gilt, wenn nur ein Teil in der vorgenannten Weise auftritt.
Ein Verstoß gegen das Militanzverbot soll strafbar sein und mit bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe oder mit Geldstrafe geahndet werden. Dabei soll es ausreichen „aggressiv oder provokativ“ dazu beizutragen, dass eine Versammlung unter Verstoß gegen §18 Abs. 1 VersG-E Gewaltbereitschaft vermittelt und dadurch einschüchternd wirkt. An dieser Stelle lässt der Gesetzesentwurf jegliche Bestimmtheit vermissen. Es ist kaum mehr bestimmbar, wann gegen das Verbot verstoßen wird bzw. der Straftatbestand erfüllt wird. Es reicht aus, einen schwarzen Pullover und eine Sonnenbrille zu tragen.
Teilnahmeuntersagung und Meldeauflage
Mit Meldeauflagen sollen künftig von der Polizei als „problematisch“ bewertete Teilnehmende von der Versammlung abgehalten werden. Die Verwaltungsgerichte hatten derartige Maßnahmen vereinzelt für rechtmäßig erklärt. Die Polizei darf künftig die Teilnahme an einer Versammlung unter bestimmten Voraussetzungen untersagen und „soll“ dann auch eine Auflage aussprechen, wonach sich die betroffene Person innerhalb eines festgelegten Zeitrahmens oder zu einem bestimmten Zeitpunkt auf einer Polizeidienststelle einzufinden und sich dort mit einem Personaldokument auszuweisen hat. Mit der Aufnahme in das Gesetz besteht die Gefahr, dass dieses Instrument künftig häufiger angewendet werden könnte. Teilnahmeuntersagungen stellen aber einen schwerwiegenden Eingriff in das Recht, sich zu versammeln, dar.
Formale Hürden für Veranstalter:innen
Veranstalter:innen sollen Versammlungen nicht mehr telefonisch oder mündlich anmelden können. § 10 Abs. 1 Satz 3 VersG-E bestimmt, dass die Anmeldung elektronisch oder zur Niederschrift erfolgen muss. Die Anmeldefrist von 48 Stunden bleibt bestehen, ausgenommen sein sollen aber Samstage, Sonntage und Feiertage. Mal abgesehen davon, dass die Polizei auch am Wochenende arbeiten sollte, erscheint diese verlängerte Anmeldefrist grundsätzlich problematisch. Sie wird damit auf bis zu vier Tage verlängert.
Bisher waren nur einige wenige Angaben in der Anmeldung verpflichtend. Nach § 14 Abs. 2 VersG ist in der Anmeldung anzugeben, welche Person für die Leitung verantwortlich sein soll. Die Neuregelung in § 10 Abs. 2 VersG-E ist da deutlich weitgehender. Das Gesetz nennt zahlreiche Angaben, u.a. den geplanten Ablauf der Versammlung nach erwarteter Teilnehmerzahl, Ort, Zeit und Thema, Namen, telefonische Erreichbarkeit und eine für den Schriftverkehr mit der zuständigen Behörde geeignete Anschrift der anzeigenden Person und der Person, die sie leiten soll. Zwar sind diese Angaben durchaus sinnvoll, aber schon der Gesetzestext erschlägt ein wenig. Wenn man erstmal lange lesen muss, was man der Polizei schreiben soll, dann ist das nicht gerade versammlungsfreundlich.
Fazit
Der Gesetzesentwurf ist offenbar von dem Ziel getragen, Versammlungen einzuschränken. Die in diesem Beitrag aufgeführten Regelungen sind nur ein Ausschnitt. Im Detail finden sich weitere problematische Punkte. Der Staat täte besser daran, die Wahrnehmung von Grundrechten zu fördern und es Menschen so einfach wie möglich zu machen, sich zu versammeln. Denn die Versammlungsfreiheit ist in einer Demokratie ein hohes Gut. Sie ermöglicht es, unmittelbaren Protest auf die Straße zu tragen.
Vielleicht spekuliert die Landesregierung auch darauf, dass sich die Empörung in Grenzen halten wird, weil Versammlungen in einer Pandemie nicht einfach möglich sind. Diesen Gefallen sollte man ihr nicht tun. Denn es wird eine Zeit kommen, da wird es wieder möglich sein, mit vielen Menschen gemeinsam zu demonstrieren. Dieser Gesetzesentwurf will dies erschweren – das sollten wir nicht zulassen.
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